Mein Plädoyer für eine konstruktive Fehlerkultur

30 Sep

Projekte, bei denen Neues entstehen soll, brauchen als Nährboden unbedingt Vertrauen, eine konstruktive Fehlerkultur und angstfreie Zone. Bevormundung und vorschnelle Kritik führen bestenfalls zur Mittelmäßigkeit.

Wir bekommen immer das, was wir belohnen
Wir bekommen immer das, was wir belohnen

Das „Walnusseis-Prinzip“

Im Alter von fünf Jahren befolgte einer meiner Söhne meine Aufforderung besonders schnell. Daraufhin besorgte ich ihm sein Lieblingseis. Von diesem Zeitpunkt an wollte er immer, wenn er meine Anordnungen befolgt hatte, ein köstliches Walnusseis. Er entwickelte sich geradezu zum Meister im Befolgen von Anweisungen. Als ich dieses System durchschaute, wurde ich etwas traurig, denn es war mir immer wichtig, meine Kinder zu selbstständigen Menschen zu erziehen.

Weichgespülte Ja-Sager oder sich entfaltende Mitarbeiter?

Dasselbe Prinzip beobachte ich auch in Unternehmen. Das Ergebnis sind weichgespülte Ja-Sager: Mitarbeiter, die Sie nicht wirklich gebrauchen können. Auch in der Zusammenarbeit bei Maschinendesign-Projekten bin ich verwundert, wie kleinkariert manche Firmen ihre Erwartungen präsentieren.

Vor einigen Tagen formulierte ein leitender Mitarbeiter einer Kundenfirma seine Erwartungen an uns: Unsere Industrial Designer müssten seine Anforderungen und Vorgaben zu 100 Prozent einhalten. 101 Prozent gelte für ihn bereits als eine Missachtung des Auftrags.

Sicherheitsdenken dämpft Kreativität

„Wow!“ dachte ich, als mir einer meiner Mitarbeiter davon berichtete. Wir sind keine Steuerprüfer, die in Cent rechnen und wo die Abrechnung mehrere Stellen hinter dem Komma „sitzen“ muss. Innerhalb des Sicherheitsbereichs zu bleiben bedeutet zur Sicherheit einen Sicherheitsabstand vorzusehen und damit höchstens 70 Prozent des Möglichen auszuschöpfen.

Ungeahnte Chancen dank gezielter Grenzüberschreitung

Ich bezweifle sehr, dass solche Auflagen und  Beschneidungen für ein Unternehmen von Vorteil sind. Unserer Kenntnis nach kann man im kreativen Bereich nur durch eine gezielte Grenzüberschreitung das Chancenpotenzial optimal ausschöpfen. Bewegen wir uns bei der Entwicklung im Maschinendesign nur auf sicherem Boden, entsteht bestenfalls eine mittelmäßige Lösung. Und davon gibt es mehr als genug. Das Ergebnis ist dann austauschbar und erzielt keinen vernünftigen Marktpreis.

Sie haben es sich schon gedacht: Für Mittelmäßigkeit stehen wir nicht zur Verfügung – weil sie wertlos ist für alle Beteiligten.

Konstruktive Absprachen bringen Klarheit

Uns interessieren nur Projekte mit Erfolgspotenzial im Sinne unserer Kunden. Gewiss, jede erfolgreiche Entwicklung braucht einen präzise umrissenen Rahmen, der in der Vorarbeit diskutiert und gemeinsam abgesteckt werden will. Daher äußern wir stets unsere Bedenken und sprechen über Möglichkeiten und Konsequenzen von Bedingungen und engen Vorgaben. Das bringt Klarheit und der Kunde kann im Vorfeld ohne Zeitdruck seine Ergebniserwartung abgleichen. Eine Wenn-Dann-Haltung erinnert dagegen an vergangene Schulzeiten und ist alles andere als eine konstruktive Ausgangssituation für jede Art kreativer Prozesse.

Maschine mit Überraschungseffekt

Vor einem Jahr erhielten wir einen Auftrag von einem führenden Maschinenhersteller aus der Beschichtungstechnik. Er gab unserem Entwicklungs- und Design -Team exakt drei Monate Zeit, um eine neue Maschine auf die Beine zu stellen, die den Kunden auch noch verblüffen sollte. Die Zeitvorgabe war durch einen Messetermin zementiert.

Im ersten Schritt legten wir Wege der Kommunikation und Entscheidungsfindung und die Zielsetzung fest. Im zweiten Schritt grenzten wir das technische Potenzial ein, das in diesem Zeitraum realistisch umsetzbar war. Das Ergebnis: Der Kunde war beeindruckt, wir stolz und das Messefeedback überwältigend. Natürlich konnten wir in dieser Zeit das Rad nicht neu erfinden, dennoch hat Design Tech die gewünschte Überraschung im Maschinendesign geliefert. Somit setzten wir die engen, aber konstruktiven Rahmenbedingungen nutzbringend um.

Der Nährboden der konstruktiven Fehlerkultur

Projekte, bei denen Neues entstehen soll, brauchen unbedingt den Nährboden einer konstruktiven Fehlerkultur und einer angstfreien Zone. Meiner Erfahrung nach kann nur so jegliches Chancenpotenzial optimal ausgereizt werden. Drohungen, Provokationen und Misstrauen führen in jedem Entwicklungsprozess bestenfalls zu Mittelmäßigkeit.

Gute Entwickler und Industrial Designer arbeiten einzig und allein nach Zielvorgaben. Weil sie das dahinter stehende Prinzip verstanden haben und daher punktgenaue Lösungen liefern, darf es als Belohnung auch mal ein Walnusseis sein.

 

Jürgen R. Schmid

Design Tech

www.designtech.eu

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